Gibt es welt ohne Kunst?



20.08.2021 


Gibt es Welt ohne Kunst?
Was bedeutet uns Kunst?



In dieser Festschrift werden die Philosoph*innen Christoph Menke, Dieter Mersch,
Juliane Rebentisch, Birgit Recki und Christiane Voss verschiedenste Fragen stellen, werden Kommentare formulieren, werden Abgründe und Hoffnungen aussprechen, angestoßen durch einen Essay von Daniel Kühnel, dem Intendanten des Lausitz Festivals und der Hamburger Symphoniker.

Dieser Essay, „aus der Mitte des Kulturbetriebs“ und trotzdem und gerade deshalb von philosophischer Bestimmtheit, soll als Ausgangspunkt für die vorliegende Festschrift verstanden werden. Der Text von Daniel Kühnel „Vom tätigen Kulturleben. Ein Kommentar zur gegenwärtigen Krise des Kulturbetriebs“ ist ein kritischer Text, der das gegenwärtige Kulturleben auf seine Selbstverständlichkeiten hin abklopft. Er tut aber noch viel mehr. Er ist besorgt, verärgert und hoffnungsvoll zugleich. Manchmal erscheint es, als wolle er sogar mahnen. Die Nähe zur täglichen Kunstproduktion und die Möglichkeit sie gleichzeitig zu reflektieren, machen diesen Text so bedeutsam.   

Einige der hier vorliegenden Texte beginnen mit einer zusammenfassenden Konzentration auf Kühnels zentrale Argumente und tragen diese in eine jeweils unterschiedliche Richtung. Daher möchte ich hier nicht zusammenfassen, was wiederum die einzelnen Autor*innen genau schreibend gedacht haben. Vielmehr möchte ich Sie an dieser Stelle einladen, den folgenden Texten und den darin gestellten Fragen Aufmerksamkeit zu schenken. Denn mir scheint, es geht um unsere Existenz.

Kunst und Kultur und ihre Bedeutung sind, wie sich in den letzten beiden Jahren, den Jahren, die vielleicht als Corona-Jahre erinnert werden, verstärkt gezeigt hat, nicht selbstverständlich. Vor allem ist die Ausführung von Kunst und Kultur offenbar nicht selbstverständlich. Kultur kann sich ihre Notwendigkeit für die Gesellschaft selbst nicht erzählen – sie macht sich immer noch klein vor der Notwendigkeit von Markt und Staatsraison, kann sich nicht als deutlich notwendig in der und vor allem für die Gesellschaft vermitteln. Über eben diese und andere Arten fundamentaler Krise wird hier zu reden sein.   

Die Maßnahmen, die notwendig waren, um die Bevölkerungen gegen die Ausbreitung des Virus COVID-19 zu schützen, die Maßnahmen, die eine massive Einschränkung nicht nur, aber vor allen Dingen, der Öffentlichkeit bedeuteten, zeigten, worauf wir glauben am leichtesten verzichten zu können. Unscharf und zugespitzt kann behauptet werden, dass wir leichter auf Theater-, Konzert- und Kulturhäuser verzichten können als auf Warenhäuser. So zumindest ist es geschehen. Geöffnete Warenhäuser, geschlossene Kulturstätten. Es scheint also Uneinigkeit zu herrschen darüber, wer oder was denn dieses große WIR sein soll.

Waren sind eindeutig und zweckgebunden, Kunst und Kultur sind sich im besten, performativen Fall ihres Zweckes unbekannt, vielmehr spüren sie durch den Mut zum Experiment eine offene Zukunft auf, die sich anhand von Poesie einer Unendlichkeit umarmend zu stellen vermag.

Aber es gibt auch eine Notwendigkeit ohne Zwecke – es gibt eine Notwendigkeit der Zwecklosigkeit. Um ein Wort des französisch-litauischen Philosophen Emmanuel Levinas zu verwenden: Kunst und Kultur stehen auf der Seite der Poesie und der Unendlichkeit, dieser entgegen steht die Totalität und die Verwaltung. Wo nur die Notwendigkeit der Zwecke regiert, gibt es keine Veränderung, gibt es keine Zukunft.

Die Unendlichkeit verlangt Vielfalt und Diversität, die Poesie Offenheit und einen Verzicht auf Linearität. Das könnte bedeuten, dass jede künstlerische Handlung bereits eine metaphysis birgt. Es soll hier eine Einsicht in die menschliche Grundbedingung erneuert werden: Jede physis ist Ergebnis einer Veränderung, einer Bewegung. Immer wenn wir Menschen etwas erwähnen, etwas benennen oder etwas zeigen, verändern und bewegen wir das Gezeigte gleich mit. Jedes Festhalten, jedes Hoffen auf Stille und jedes Streben nach Sicherheit ist, wie es die Autorin Carolyn Amann nennt, ein
Geistertier.


Jede Bewegung bringt eine Unsicherheit mit sich, jedes Sprechen wagt sich hinaus und wagt die mögliche Unverständlichkeit oder gar Konsequenzlosigkeit.

Kunst und Kultur stellen sich dieser Unsicherheit. Die Kunst produziert Unsicherheit und macht sie produktiv.
Das Lausitz Festival hat eben jenen Mut, anhand der Veranstaltungen, aber auch anhand dieser Festschrift Unsicherheiten, mögliche Unverständlichkeiten produktiv zu machen. Diese Festschrift versteht sich als eine ins Konkrete gebrachte Erweiterung der im Lausitz Festivals stattfindenden Gesprächsreihe „DenkBar“ und soll – wie erwähnt – die Grundlagen des Selbstverständnisses des Kunstbetriebs und der Kunsttheorie hinterfragen und anhand philosophischer Texte die Kostbarkeiten der Kunst, der Kultur und der Freiheit als performative Praxis herausstellen.  

Die Lausitz hat eine über Jahrhunderte hinweg etablierte und manchmal ins Vergessen geratene Tradition der Vielfalt und Diversität. Diversität und Vielfalt müssen aber gewollt werden. Dieser Wunsch nach Vielfalt muss immer neu gebildet respektive ausgebildet werden. In Europa und ganz besonders in Deutschland gibt es zwei sich widersprechende Auffassungen von Bildung beziehungsweise Pädagogik: Die eine Seite arbeitet auf eine Einheit hin, die zweite auf Vielfalt. Für die Zielsetzung dessen, was Bildung zu erreichen hat, waren in Europa seit der Antike Pädagogik und Philosophie gefragt und gerufen. Es gibt einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Philosophie und Pädagogik, beide sind Mittel der Emanzipation. Und so möchte auch das Lausitz Festival einen emanzipatorischen Ansatz mitgestalten. Aus der Lausitz in die Welt und von Welt in die Lausitz. Es gibt nunmehr keine Opposition zwischen diesen beiden Begriffen, vielmehr ist die Lausitz die Hoffnung Europas, aber nur wenn Europa auch als Hoffnung für die Lausitz verstanden wird. Daher spielen und agieren, hoffen und erzeugen im Lausitz Festival so viele regionale und internationale Künstler*innen, Denker*innen und Interessierte zusammen eine Bewegung, eine Geste der Offenheit und der Toleranz.

Dafür steht auch diese Festschrift und die in ihr versammelten Beiträge. Daniel Kühnel schrieb während der letzten Monate seinen Essay „Vom tätigen Kulturleben. Ein Kommentar zur gegenwärtigen Krise des Kulturbetriebs“. Kühnel ist besorgt, verärgert und hoffnungsvoll zugleich, so scheint mir. Manchmal, so denke ich, will er sogar ermahnen: Wir sollen doch nie vergessen! Nicht die Kultur, nicht die Philosophie und erst recht nicht die Kunst! Denn all diese Felder unserer europäischen Gesellschaft sind politische Räume, in denen Freiheit immer wieder neu verhandelt werden kann und muss. Kühnel geht es nicht um Beschwerde, sondern zuvorderst um die immerwährende Verantwortung gegenüber unser aller Begierde nach Gestaltung und Bildung, also Geist. Und wir sollen doch nicht so tun, als könnten wir ohne sie leben. Denn Kultur und Kunst, mutige Gestaltung und Freiheit kennen ihren surplus nicht. Mit versprochener und eingehaltener, folglich absehbarer Kultur kann sich eine Gesellschaft nicht entwickeln. Kritik und Entscheidung, Grenzbeschreibung und somit Selbstkritik sind die Grundbedingungen einer funktionierenden, also teilenden Gesellschaft. Ein funktionierender Kunst- und Kulturbetrieb ist nicht hinreichend, sondern notwendig, um eben jene selbstkritische, sich entwickelnde Gesellschaft zu garantieren.  

Die Lausitz und Europa sind ohne Zentrum. Das allerdings ist kein Nachteil, vielmehr ist es die direkte Möglichkeit, eine immer wieder neue Lausitz zu denken und mitzugestalten. Der produktive Ansatz der Zentrumslosigkeit ermöglicht eben auch den poetisch-philosophisch-performativen Grundton, das Motto des Lausitz Festivals für das Jahr 2021. Der vom Chefdramaturgen des Festivals, Dr. Alexander Meier-Dörzenbach, und vom Intendanten des Festivals entworfene Neologismus der »Zwischensamkeit« soll eine mutige Grundlage sein für das Offene, Unsagbare, Fragile, also einen ständig sich wandelnden Zustand, wie Meier-Dörzenbach beschreibt, „Aufmerksamkeit, Einsamkeit, Wirksamkeit oder Achtsamkeit“ sind die Momente, die mit dem „menschlichen Grundzustand“ der Zwischensamkeit hervorgerufen werden; doch irritiert der Begriff eben auch und stellt damit immer wieder heraus: Kunst verlangt einen offenen Raum, Kunst gehört niemandem, Kunst und Kultur sind unendlich, brauchen die Öffentlichkeit, Kunst braucht Material, und was uns Kunst bedeutet, ist gebunden an unsere Freiheit, die niemals stabil, sondern immer ein Aushandlungsprozess ist. Das Lausitz Festival lädt Sie alle ein, an diesem Aushandlungsprozess mitzuwirken.





© Lars Dreiucker 2022